Wenn man sich mit den Grenzverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg befasst, stößt man unweigerlich auf einen bemerkenswerten Widerspruch: Die sogenannte „Oder-Neiße-Linie“, die Polen als neue Westgrenze zugewiesen wurde, verläuft östlich von Stettin – und doch gehört Stettin seit 1945 zu Polen. Wie kann das sein?

Diese Frage lässt sich weder mit einer einfachen Grenzlinie noch mit einem klaren völkerrechtlichen Akt beantworten. Tatsächlich ist Stettin ein Paradebeispiel für das, was man in der Geschichtswissenschaft die „normative Kraft des Faktischen“ nennt: Was einmal militärisch und politisch durchgesetzt wurde, bleibt – auch wenn es formal nicht gedeckt war – bestehen, bis es irgendwann legitimiert wird.

Die Potsdamer Konferenz – keine endgültige Entscheidung

Auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 verständigten sich die Alliierten – USA, Großbritannien und die Sowjetunion – auf eine vorläufige Westgrenze Polens entlang der Oder und Lausitzer Neiße. Die Formulierung war bewusst offen: Man sprach von einer „vorläufigen Verwaltungsgrenze“, nicht von einer endgültigen Grenzziehung. Diese sollte einem künftigen Friedensvertrag vorbehalten bleiben – einem Vertrag, der übrigens nie geschlossen wurde.

Nach dieser Logik hätte Stettin, das westlich der Oder liegt, nicht zu Polen gehört. Und doch wurde die Stadt bereits am 5. Juli 1945 von polnischen Behörden übernommen. Die deutsche Bevölkerung wurde binnen kurzer Zeit vertrieben, Polen aus dem Osten angesiedelt, die Stadt „umgeprägt“.

Stalin entschied – der Westen schwieg

Die Antwort liegt in Moskau. Stalin hatte wenig Interesse an geografischer Genauigkeit oder völkerrechtlicher Konsistenz. Für ihn zählte die militärische Kontrolle, und die Rote Armee hatte Stettin besetzt. Der sowjetische Diktator bestimmte kurzerhand, dass Stettin an Polen geht – als Entschädigung für die gewaltsame Abtretung Ostpolens an die Sowjetunion.

Die Briten waren irritiert, die Amerikaner hielten sich zurück, doch niemand wollte eine offene Konfrontation mit der UdSSR riskieren. Also wurde geschwiegen – und später schulterzuckend akzeptiert. Die Westmächte redeten sich mit dem Hinweis heraus, es handle sich um eine „Verwaltungsmaßnahme“ und keine Grenzfestlegung. Doch auf dem Boden der Realität war die Entscheidung längst gefallen.

Faktisch polnisch, rechtlich offen – bis 1990

Die Bundesrepublik Deutschland hat bis 1990 nie offiziell anerkannt, dass Stettin (und das gesamte Gebiet östlich der Oder-Neiße) rechtmäßig zu Polen gehört. Erst im Zuge der Wiedervereinigung, im Rahmen des sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrags, wurde die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich verbindlich festgelegt. Am 14. November 1990 unterzeichneten Deutschland und Polen schließlich den deutsch-polnischen Grenzvertrag.

Erst damit – fast 45 Jahre nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung – wurde die Grenze legitimiert, die 1945 rein machtpolitisch entstanden war.

Erinnerung ohne Revanchismus

Man muss diese historischen Tatsachen nicht in revanchistischer Absicht benennen. Aber man sollte sie auch nicht ausblenden. Dass Stettin einst eine deutsche Stadt war – mit deutschem Stadtbild, deutscher Verwaltung und deutscher Geschichte – ist keine Meinung, sondern ein Faktum. Dass sie heute zu Polen gehört, ist ein anderes Faktum – politisch durchgesetzt, später rechtlich besiegelt.

Zwischen diesen beiden Realitäten liegt ein halbes Jahrhundert, das geprägt war von Leid, Vertreibung, Schweigen und schleichender Anerkennung. Wer über Stettin spricht, muss all das wissen – nicht aus Groll, sondern aus historischem Bewusstsein.

Stettin ist heute eine polnische Stadt. Das ist völkerrechtlich anerkannt. Aber ihre Vergangenheit war deutsch – über viele Jahrhunderte hinweg. Daran zu erinnern heißt nicht, Grenzen zu verschieben, sondern Geschichte ernst zu nehmen.