Russlanddeutsche und der Putin-Reflex
Ich kenne Russlanddeutsche, deren Familiengeschichte liest sich wie ein schlechtes Drehbuch: erst eingeladen („Kommt her, baut auf, ihr seid willkommen!“), dann misstrauisch beäugt („Ihr seid doch irgendwie… deutsch.“), dann deportiert („Ihr bleibt jetzt mal da hinten in Sibirien.“), und zwischendrin gerne mal Zwangsarbeit, Enteignung, Schikanen – je nachdem, welcher historische Wahnsinn gerade Saison hatte.
Wenn man diese Biografien hört, denkt man automatisch: Wer sowas erlebt hat, hat ein eingebautes Frühwarnsystem gegen autoritäre Herrschaft. So eine Art inneren Rauchmelder, der losgeht, sobald ein Mann im Anzug „Ordnung“, „Tradition“ und „Volksverräter“ in einen Satz packt.
Tja. Und dann stehst du in Deutschland, irgendwo zwischen Supermarktparkplatz und Familienfeier, und hörst Sätze wie:
„Putin macht das schon richtig.“
Das ist der Moment, in dem mein Gehirn kurz anhält, die Stirn die Flucht ergreift und mein innerer Betriebswirt fragt, ob ich die Realität vielleicht falsch verbucht habe.
Da sitzen also Menschen, deren Großeltern vom Staat wie ein Problem behandelt wurden, und heute wird genau so ein Staat verteidigt – nur mit besserem Marketing und mehr Flaggen. Das ist ungefähr so, als würde jemand sagen: „Ich bin aus einem brennenden Haus gerannt, aber ich vermisse den Kamin.“
Und es kommt noch schöner: Manche haben Russland verlassen, weil sie dort als Deutsche nie ganz dazugehört haben. In Deutschland merken sie dann: Oh, hier gehört man auch nicht automatisch dazu. Und statt zu sagen „Dann baue ich mir hier mein Leben auf“, passiert manchmal das: Man erklärt Deutschland zum Hauptproblem — und Russland zum Opfer. Russland! Das Land, das in seiner Freizeit Oppositionelle wegsperrt, Medien gängelt und Nachbarländer „befreit“, indem es sie in Trümmer legt.
Wenn ich dann frage: „Warum feierst du einen Mann, dessen System genau das ist, wovor deine Familie geflohen ist?“, kommt oft das große Best-of der Ausreden:
„Die Medien lügen.“
„Der Westen ist schuld.“
„In Russland gab’s wenigstens Werte.“
Werte. Das Wort ist inzwischen so flexibel, es könnte auch ein Turngerät sein. „Werte“ bedeutet dann nicht mehr Freiheit, Recht und Würde, sondern eher: „Man weiß wieder, wer das Sagen hat.“
Und wenn ich ganz ehrlich bin: Manchmal klingt es weniger nach Politik, sondern nach einer Sehnsucht nach Übersichtlichkeit, eventuell liegt auch eine gewisse Nähe zum Masochismus im Blickfeld der Putin-Trolls.
Nach einem starken Papa-Staat, der einem die Welt erklärt: Wir sind die Guten, die anderen sind böse, und wenn du Zweifel hast, bist du halt auch böse. Praktisch. Da spart man sich Denken, und Denken ist bekanntlich anstrengend.
Ich will niemandem absprechen, dass es Verletzungen gibt, Enttäuschungen, Identitätskonflikte. Wer zwischen Sprachen und Kulturen lebt, kennt das Gefühl, nirgendwo „ganz“ zu sein. Aber irgendwann wird aus Identitätssuche Realitätsverweigerung. Und aus Heimatliebe wird Fanclub-Mentalität für einen Machtapparat, der seine eigenen Leute verheizt wie Brennholz im Winter.
Wie kann man einem System entkommen — und sich dann freiwillig wieder davor verbeugen, nur weil es jetzt im Fernsehen souveräner aussieht?
Warum stellen sich manche jener Menschen, die den Terrorstaat Russland verlassen haben, später ausgerechnet auf die Seite Putins?
