Ob Otto von Bismarck die preußische Verfassung gebrochen hat, wird in der historischen Forschung kontrovers diskutiert. Im Kontext seiner Zeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts erscheint sein Vorgehen jedoch als verständlich, wenn nicht sogar notwendig, um die politischen und militärischen Interessen Preußens zu wahren.
Der Verfassungskonflikt: Bismarcks Handeln im Licht der Zeit
Bismarck wurde 1862 von König Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, mit der klaren Aufgabe, die politischen Konflikte zwischen Krone und Parlament zu lösen. Der Hintergrund war die dringend erforderliche Reform der preußischen Armee, die in einer Zeit zunehmender Spannungen und Machtkonkurrenzen in Europa von existenzieller Bedeutung war. Die von liberalen Kräften dominierte Abgeordnetenkammer verweigerte jedoch die Zustimmung zu den dafür notwendigen Militärausgaben und brachte damit das politische System Preußens in eine Blockade.
Bismarck entschied sich, die Regierungsgeschäfte ohne formale Zustimmung des Parlaments weiterzuführen, indem er sich auf eine pragmatische Interpretation der Verfassung berief. Er argumentierte, dass ein „Haushaltsvakuum“ nicht vorgesehen sei und der Staat handlungsfähig bleiben müsse, selbst wenn keine Einigung mit dem Parlament erzielt werden könne. Angesichts der politischen Verhältnisse jener Zeit – einer Gesellschaft, die stark monarchisch geprägt war und in der das Parlament noch keine etablierte Kontrollinstanz war – erscheint Bismarcks Vorgehen weniger als Verfassungsbruch, sondern als entschlossener Einsatz für die Handlungsfähigkeit des Staates. Seine berühmte „Blut und Eisen“-Rede unterstrich, dass er die Staatsraison über theoretische Streitfragen stellte.
Dass Bismarck letztlich durch die militärischen Erfolge von 1864 und 1866 sowie durch die nachträgliche Zustimmung des Parlaments im Indemnitätsgesetz von 1866 legitimiert wurde, zeigt, dass sein Handeln im historischen Kontext als erfolgreich und im nationalen Interesse wahrgenommen wurde. In einer Zeit, in der Europa von Machtpolitik und militärischen Konflikten geprägt war, stand die Stärke Preußens für Bismarck im Vordergrund – eine Sichtweise, die viele Zeitgenossen teilten.
Die Grenzöffnung 2015: Kritisches Licht auf Merkels Handeln
Im Gegensatz zu Bismarck agierte Angela Merkel in einer voll entwickelten parlamentarischen Demokratie mit klar geregelten Gewaltenteilungen und einer etablierten Verfassungsordnung. Die Entscheidung zur Grenzöffnung während der Flüchtlingskrise 2015 war daher weitaus kritischer zu bewerten, insbesondere im Hinblick auf die Missachtung parlamentarischer Mitbestimmung und bestehender europäischer Rechtsvorschriften wie der Dublin-III-Verordnung.
Während Merkel sich auf die Dringlichkeit einer humanitären Notsituation berief, bleibt festzuhalten, dass eine solche Entscheidung – mit weitreichenden gesellschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen – ohne Zustimmung des Bundestages getroffen wurde. Art. 16a Abs. 2 des Grundgesetzes, der die Rückweisung von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten vorsieht, wurde faktisch außer Kraft gesetzt, ohne dass dies durch ein parlamentarisches Mandat legitimiert wurde. Diese Vorgehensweise ignorierte zentrale Prinzipien des Parlamentarismus und der Gewaltenteilung.
Im Unterschied zu Bismarck, dessen Handlungsspielraum durch die monarchische Staatsstruktur begrenzt und durch den Erfolg seiner Politik gerechtfertigt war, ist Merkels Vorgehen in einer parlamentarischen Demokratie besonders kritisch zu sehen. Das Parlament hätte angesichts der Tragweite der Entscheidung einbezogen werden müssen, um die rechtsstaatliche Legitimität zu wahren. Die Tatsache, dass dies unterblieb, stellt eine problematische Ausweitung exekutiver Macht dar, die das Vertrauen in demokratische Prozesse nachhaltig erschütterte.
Fazit
Während Bismarcks Vorgehen im Rahmen der politischen Realitäten seiner Zeit als entschlossene Staatskunst interpretiert werden kann, zeigt sich Merkels Entscheidung zur Grenzöffnung als kritisch im Hinblick auf die demokratischen Prinzipien des modernen Rechtsstaates. Beide Fälle demonstrieren, dass politische Führungspersonen in Krisenzeiten dazu neigen, bestehende Regeln zu umgehen. Doch während Bismarcks Handeln im Kontext einer monarchischen Gesellschaft auf pragmatische Notwendigkeit zurückgeführt werden kann, bleibt Merkels Vorgehen in einer parlamentarischen Demokratie ein Beispiel dafür, wie einseitige Entscheidungen das Vertrauen in den Rechtsstaat belasten können.